Dass der Zufall im Leben eine wichtige Rolle spielt, erfuhr auch Henriette Goldschmidt, nachdem sie 1859 nach Leipzig gekommen war. Auf dem Weg durch die Stadt kam sie in der Nähe der Weststraße an ein Haus, dessen Parterre die Inschrift „Kindergarten“ trug. Zwar hatte sie in Gesprächen bereits von Kindergärten und Fröbelschen Beschäftigungen gehört, ohne aber der Sache besondere Aufmerksamkeit zu schenken. „Doch blieb ich einen Augenblick vor dem Hause stehen, klingelte und stieg einige Stufen hinunter in einen kellerartigen Raum. Denn wo hätte damals ein Kindergarten anders ein Lokal finden können als in einem irgendwie ungehörigen Raum?“ Eine junge Frau trat Henriette Goldschmidt entgegen, und da die Kinder noch nicht da waren, hatte die Kindergärtnerin Zeit, ihr die Fröbelschen Beschäftigungsmittel zu zeigen. „Sehr erstaunt sah ich sie an, ich fühlte, hier ist ein Plan, ein System, eine Methode!“
Goldschmidt besorgte sich Fröbels Schriften aus der Universitätsbibliothek, begann, sich intensiv mit dessen Ideen zu beschäftigen, war begeistert vom Ziel einer allseitigen harmonischen Bildung und Erziehung der Kinder im Vorschulalter. Unter dem Eindruck dieser Ideen gründete Goldschmidt am 10. Dezember 1871 den „Verein für Familien- und Volkserziehung“ und im Herbst 1872 einen Volkskindergarten in der Querstraße.
Henriette Goldschmidt, die am 23. November 1825 in Krotoschin geboren wurde und nach ihrer Heirat mit dem Rabbiner Dr. Abraham Meier Goldschmidt zunächst nach Warschau und dann nach Leipzig zog, kam bei den regelmäßigen Tischrunden in ihrem Hause mit bekannten Persönlichkeiten in Kontakt. Der Naturforscher und Schriftsteller Emil Adolf Roßmäßler, wie sie ein begeisterter Verfechter der Idee vorschulischer Erziehung, beeinflusste sie sehr. Entscheidend für ihre Tätigkeit aber war die Bekanntschaft mit den Frauenrechtlerinnen Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt, mit denen sie am 16. Oktober 1865 den Allgemeinen Deutschen Frauenverein gegründet hatte. Obwohl Henriette Goldschmidt keine abgeschlossene Ausbildung besaß, wagte sie sich mit Vorträgen an die Öffentlichkeit, reiste dazu durch ganz Deutschland und publizierte. 1878 gründete sie ein „Lyzeum für Damen“, 1889 erwarb der Verein mit Hilfe erheblicher Spenden das Haus in der Weststraße 16.
1911 schließlich konnte Henriette Goldschmidt dank einer Stiftung des Verlegers Henri Hinrichsen die Hochschule für Frauen eröffnen, die nach ihrem Tod am 30. Januar 1920 von der Stadt übernommen und in ein Sozialpädagogisches Frauenseminar umgewandelt wurde. Heute befindet sich hier das berufliche Schulzentrum „Henriette-Goldschmidt-Schule“.
Dagmar Schäfer
Das 1889 erworbene Vereinshaus Weststraße (heute Friedrich-Ebert-Straße), seit 1920 Henriette-Goldschmidt-Haus, 2000 unter Bürgerprotesten abgebrochen.
Abb. Autorenarchiv