Industriegeschichte im Leipziger Westen
Der Block zwischen Lützner und Demmeringstraße, Cranach- und Dürrenberger Straße ist ein stadtgeschichtlich bemerkenswerter Bereich. Historische Pläne aus dem 19. Jahrhundert zeigen zahlreiche schmale, durchgehende Parzellen zwischen Lützner und Demmeringstraße – hier befanden sich mehrere vorstädtische Gärtnereien.
Bis zum Ersten Weltkrieg waren vor allem die westlichen und östlichen Blockränder entlang der Cranachstraße und der Dürrenberger Straße durchgängig mit Wohnhäusern bebaut. Jeweils daneben waren Fabriken entstanden, beispielsweise schon um 1874 im nordöstlichen Bereich die Maschinenfabrik Lavand & Helbig oder die Leipziger Trikotagenfabrik AG (Lützner Straße 102-104). Nach dem Ersten Weltkrieg kam der Neubau von Wohnhäusern zum Erliegen, weshalb noch heute die langen, schmalen Parzellen erkennbar sind und sich sogar der Gartenbau in Form der Annalinde-Gärtnerei bis heute halten konnte.
In diesem halb städtisch, halb ländlichen Umfeld nahmen 1897 die „Leipzig-Colditzer Tricotagenfabriken Berger & Co“ ihren Betrieb auf. Auf dem neu erworbenen Betriebsgrundstück stand bereits seit 1872/73 ein dreigeschossiges Wohngebäude direkt an der Lützner Straße. Im rückwärtigen Bereich befand sich unter anderem die Seilerwerkstatt von Franz John. Das Wohngebäude wurde ab 1896 vom neuen Eigentümer zu gewerblichen Zwecken umgebaut. Bereits ein Jahr vorher wurden Pläne für zwei Neubauten zur Genehmigung eingereicht, nämlich für ein U-förmiges, viergeschossiges Fabrikgebäude in Grundstücksmitte und ein dreigeschossiges Wohngebäude an der Demmeringstraße. Erst nach mehrfachen Änderungen wurde diese von Robert Röthig (‚Firma Albrecht & Co – Bau- und Putzwände-Fabrik‘) erstellte Planung genehmigt, dennoch erfolgt die Abnahme des Rohbaus schon im November 1895.
Neben dem heute noch vorhandenen und inzwischen sanierten Fabrikgebäude mit Klinkerfassade entstanden ein Kesselhaus sowie ein 30 Meter hoher Schornstein.
Die Bauakten der Trikotagenfabrik zeugen von permanenten Anpassungen der Bausubstanz. Bereits 1897, also kurz nach Betriebsaufnahme, war ein Erweiterungsbau auf dem Nachbargrundstück geplant, der an die beiden Giebelwände des U-förmigen Gebäudes angeschlossen hätte. Damit wäre die Fabrik zu einem fast quadratischen Grundriss mit großem Innenhof komplettiert worden. Aus unbekannten Gründen wurde der Entwurf jedoch nicht ausgeführt, ebenso wie das 1895 geplante Wohnhaus an der Demmeringstraße nie realisiert wurde.
Aber auch andere Projekte kamen letztlich nicht zustande: so zeigen die Pläne von 1897 eine neue, 13,5 Meter breite öffentliche Straße, die in Verlängerung der heutigen Röntgenstraße eine zusätzliche Verbindung zwischen Demmering- und Lützner Straße herstellen sollte. Noch vor dem zweiten Weltkrieg wurde diese Planung endgültig aufgegeben, weil kein ‚Verkehrsbedürfnis‘ mehr gesehen wurde. Die Fabrik wird in einem Artikel im Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 4. Februar 1898 als „mustergültiges Werk der einheimischen Textilindustrie“, das „einer vielverheißenden Zukunft“ entgegensieht, geschildert. Anlass für die ausführliche Berichterstattung war übrigens ein halbstündiger Besuch des sächsischen Königs Georg am Tag zuvor.
Um die Jahrhundertwende wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, Vorstandsvorsitzender wurde Herr Paul Obst. Erwähnt für diese Zeit wird auch eine Filiale in Apolda. Zur gleichen Zeit sind neue Erweiterungsbauten geplant, diesmal aber nur „kleinere Anbauten“, wie es im Bauantrag heißt. Beide neuen Gebäudeteile schließen direkt an das Hauptgebäude zur Lützner- und zur Demmeringstraße hin an.
1914 wird dann eine im Bauantrag als „Übersetzungs-Bau“ bezeichnete Aufstockung des rechten Flügelbaus hin beantragt. Diese verhältnismäßig kleine Baumaßnahme ist besonders erwähnenswert, weil sie in Stahlbeton, einer damals hochmodernen Bauweise, ausgeführt wurde. Planer war Max Pommer, der Leipziger Pionier dieser Bauweise.
Das letzte größere Umbau- bzw. Erweiterungsprojekt, das noch kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, realisiert wurde, war die Errichtung eines größeren Seitengebäudes mit Luftschutzkeller zur Demmeringstraße hin. Damit war die größte räumliche Ausdehnung der Fabrikanlage erreicht.
Die Geschichte der Trikotagenfabrik ab 1945 ist Gegenstand des zweiten Teils, der im Ortsblatt 2/2020 erscheinen wird.
„Trikotagen“ sind übrigens textile Produkte, die gewirkt oder gestrickt sind oder die aus zuvor gewirkten beziehungsweise gestrickten Flächengebilden oder Schläuchen hergestellt wurden.
Die Trikotagenfabrik in den 1930er Jahren, im Vordergrund die Lützner Straße.
Fotos: Carsten Martin / privat